Das kleine Mädchen, vor mir an der Ampel, vielleicht drei Jahre, das den Zebrastreifen auf dem Laufrad trippelnd überquert, mit dem Schnuller im Mund munter mir einen Blick zuwerfend, über die niedrige Bordsteinkante auf die andere Seite fährt, dann im Bogen nach links, der Mutter folgend, einen Kantstein entdeckt, der, herausragend, zur Umfassung eines Baumes gehört. Nun verlangsamt es sein Tempo, fast bleibt das Mädchen stehen und tastet mit dem linken Fuss den grauen kantigen Stein ab. Offensichtlich zufrieden mit seiner Erkundung, folgt es weiter nach links der wartenden Mutter, alles zusammen fröhlich und in einem Fluss, den kessen Blick zu mir mit einbegriffen.
Von was war ich Zeuge? Nachhause gekommen, gehe ich die Treppe hoch zum dritten Stock und erlebe im Aufsteigen, angeregt von der Begegnung mit dem Kind, dies: die Kante der Treppenstufe aus Granitimitation, das Metall des Geländers, ummantelt am Handlauf mit rotem Plastik, die schmalen schwarzen Kacheln, die zu den Stufen hin die gelbe Wand nach unten abschliessen, das matte Licht, das durch die dicken Glaswände hereinschimmert, den runden Knopf der Tür mit dem zu öffnenden Schloss, viele Dinge, die ich bewusst sehe. Und noch mehr Dinge sind es, die in der Aufwärtsbewegung vom Rande der Wahrnehmungen hereinwirken und von denen ich weiss, dass sie mit allen Wahrnehmungen innerhalb und ausserhalb des Hauses und mit unendlichen anderen Wahrnehmungen in der Welt verbunden sind. Die allermeisten dieser Wahrnehmungen sind bekannt, vertraut und somit auch Erinnerungen an unendliche Erfahrungen, die ich durch die langen Jahre meines Lebens gemacht habe.
Gehe ich einzelnen Wahrnehmungen nach, etwa denen, die ich erfahre beim Anschauen und Betreten der Steinstufen, so weiss ich unmittelbar, dass hier letztlich Erfahrungen aus der Kindheit zugrunde liegen, dass ich einst Urerfahrungen gemacht habe, irgendwo und irgendwann als kleines Kind. Ich spüre fast noch die Kälte des ersten Steines, mit dem ich Berührung kam und den Schmerz, als ich mich an der ersten Kante ansties.
Wenn ich heute durch diese Erlebnisse und die Erinnerungen daran angeregt, hineinblicke in die Tiefe und Menge aller Erfahrungen an Wahrnehmungen auf allen Gebieten des Lebens, so könnte ich meinen, dass Erfahrungen wahllos entstehen, unsystematisch, ohne Sinn und Zusammenhang. So ist es aber nicht.
Das kann schon deshalb nicht sein, weil ein Mensch dabei verwirrt, ja verrückt würde, wie ich es bei bestimmten schizophrenen Menschen erlebte, die durch wahllos auf sie einstürmende Wahrnehmungen in eine psychotische Situation gerieten.
Was aber macht, dass das Kind und wir alle, die wir Kinder waren, nicht verwirrt, ja verstört wurden durch die auf uns wirkenden Wahrnehmungen, wenn sie sich so im Fluss des Spieles ereignen, wie bei dem kleinen Mädchen? Am seinem Beispiel lässt sich das erkennen. Alle seine von mir begleitenden Wahrnehmungen hat es im Fluss einer selbständigen Bewegung gemacht. Alle Wahrnehmungen, die ihm deutlich wurden, wie auch die, die am Rande seiner Aufmerksamkeit sich befanden, waren aufgereiht an der Schnur des selbst gewählten Bewegungsablaufes.
Wenn wir von Sinn sprechen, so kommt dieses Wort von senden. Sinn erhalten wir dann, wenn die Wahrnehmungen und die später dazu gehörenden Begriffe und Wahrnehmungen „gesendet“ sind, das heisst eine logische Richtung haben, der einen Weg bezeichnet. Sinnzusammenhang ist immer ein Weg, Logik ist Schritte auf einem Weg mit einem Ziel. Im erwachsenen logischen Denken ist dieser Weg losgelöst von der äusseren Realität, er ist abstrahiert und bildet sich in unserem bewussten Innenleben.
Beim Kind – und beim Künstler – verläuft der sinnbildende Weg in der Handlung mit dem Objekt, dem sinnesnahen Gegenstand, der wahrgenommen, und, beim Kind wie beim Künstler, gestaltet wird. Das Kind nimmt den Kantstein wahr und betritt ihn. Es macht etwas mit ihm, um die Erfahrung leibhaftig werden zu lassen. Wir wissen alle, wie eifrig die Kinder mit Elementen umgehen, die vielgestaltig sind, die sich unendlich vielseitig gestalten, bewegen und damit begreifen lassen, wie Sand, Lehm, Wasser, Laub, Staub, Späne, Kies und anderes, das noch ungestaltet und vielseitig ist oder Gegenständen, die sich unendliche Male bewegen und erproben lassen: Bälle, Schaukeln, Räder, Seile.
Die Entstehung von Erfahrungen durch die Wahrnehmung in der kindlichen Umgebung folgt immer einer Linie. Diese Linie liegt in der Bewegung des Kindes. Und diese Fähigkeit zur Bildung des sinnvollen Linienweges liegt in der im Kind veranlagten Sehnsucht, in der sehnsüchtigen Suche nach Erfüllung und Bestätigung. Mit anderen Worten: jedes Kind, somit jeder Mensch hat in sich ein ungesättigtes Feld, eine fragende Potenz, ein Magnetfeld bestimmter Art, das alles anzieht, was mit dieser Potenz verwandt und was Antwort auf dessen Fragen ist. Der äusseren Suche geht ein inneres Organ der Orientierung voraus, das man nennen kann: Sinn für das Sinnvolle.
Ein Einzelnes, Isoliertes aber hat nicht Sinn. Ein einzelner wahrgenommener Gegenstand, ein Klang, eine Farbe, ein Geruch, eine Stimmung, ist nie allein, ist immer verbunden mit einem Umkreis, einem Feld, gleicht einer Farbe in einem Gemälde, einer Pflanze in einem Garten. Jede Wahrnehmung ist komplex, das heisst aus vielem zusammengesetzt und doch eine Einheit bildend. Erst im Verhältnis zur Biegung des Weges nach links und zum Fuss, dem der Kantstein entgegenkommt, in der Berührung interessant, neu und erfreulich, erst in der Komposition aller dieser Relationen von Bewegung, Laufrad, Kante, wartende Mutter, entsteht Sinn, das heisst zufriedene Sättigung der Seele durch einen Zusammenhang.
Es mögen hier platonisierende Ideen beim Schreiber dieser Zeilen vermutet werden. Aber er glaubt, einfach nur zu beschreiben, was er sieht und was er selbst erlebt hat und immer noch erlebt. Und sein Schicksal hat es sinnvoll so gefügt, dass er im Umgang mit Kindern noch täglich die Entstehung von grundlegenden Erfahrungen aus den Linien und Wegen des Spiels beobachten, ja sogar helfend und lernend in sie eingreifen kann.
Wer tiefer in diesen Zusammenhang eindringt, kann zwei Motive entdecken, die in dem Kraftfeld wirken, das die Wahrnehmungen anzieht, die das einzelne Kind, der einzelne Mensch auswählt aus der Fülle aller Wahrnehmungsmöglichkeiten. Denn jeder Mensch wählt anders und anderes aus. Das eine Motiv ist das persönliche schicksalsgebundene Suchen nach Situationen, die nur diesen Menschen betreffen und die glückliche oder auch unglückliche Folgen haben und haben werden im Verlaufe des individuellen Lebens.
Hier geht es nicht um Vernunft, Ordnung, ja nicht einmal um das im Augenblick Sinnvolle und Nützliche. Das Sinnvolle, wenn auch vielleicht Schmerzliche und Leidvolle kann sich viel später im Rückblick erweisen, so ein Unglück, eine Begegnung, ein Eindruck, der seine vielleicht schwierige Entstehung erst viel später im Leben als notwendig und dadurch als sinnvoll erweist.
Das andere Motiv ist das in allen Menschen angelegte und das so zu beschreiben ist: wie in der Entwicklung des Menschenwesens im Mutterleib dieses immer die biologischen Stufen der Entwicklung aller vorhergehenden Wesen nachvollzieht nach dem biogenetischen Grundgesetz, so versucht jedes normale Kind im Spielalter die Stufenfolge der menschlichen Kulturentwicklung symptomatisch, das heisst spurenweise zu erproben. Diese Gesetzmässigkeit wurde 1938 von dem Kulturhistoriker Fredrik Adama van Scheltema (1884-1968) (Die geistige Wiederholung) dargestellt und von mir, bevor ich Scheltema kannte, wiederentdeckt und in meinen drei Kindergartenbüchern beschrieben.
Wobei durch die seit Scheltemas Beschreibung veränderten Zivilisationsbedingungen und auch durch neue Eigenschaften und Fähigkeiten der Kinder das andeutungsweise lineare Nacheinander der Kulturstufen heute eher durch ein gleichzeitiges Nachvollziehen von Kulturelementen ersetzt wird. Gerade in der Gleichzeitigkeit verschiedener Qualitäten und Elemente, wenn ein Erfahrungsfeld betreten wird, zeigt sich das Aufnehmen der Kulturelemente bei dem heutigen Kind.
Was hier gesagt wird, lässt sich nicht äusserlich beweisen, sondern es baut auf einer inneren Logik. Folgen wir jedoch dieser, dann weitet sich der Blick in der Beobachtung einzelner kindlicher Erfahrungshandlungen. Bei dem Erleben des kleinen Mädchens auf dem Laufrad können wir versuchen, den von uns wahrgenommenen Handlungsablauf zu befragen: Wo tauchen physikalische, wo optische, wo mathematische, geometrische, soziale, künstlerische Elemente auf, welche wir nachträglich als solche identifizieren können, weil das Kind sie ja real vollzogen und damit auch erlebt hat? Vermögen wir solche Elemente festzustellen, dann wäre der nächste Schritt, dass wir uns einfühlen können in die Empfindungs- und Bewusstseinslagen, in denen das Kind sich befand, als es das eine und das andere tat und erlebte.
Zur Hilfe kommt uns immer die Erinnerung an unsere eigene Kindheit. Aus dieser können wir entnehmen, dass wir, verglichen mit unserem heutigen erwachsenen Bewusstsein eher träumend, ja oft mit dem Gefühl der Macht über die Dinge, also magisch in und mit den Dingen und Wesen lebten.
Wiederholung der Kulturstufen seit Urbeginn heisst auch Wandel der Bewusstseinsstufen. Die Märchen waren einst Mitteilungen an Erwachsene. Vor nicht allzu langer Zeit wurden in Ungarn noch unter den Soldaten, in der Türkei in den Karawansereien, wo die müden Hirten, Viehtreiber und Händler sich am Abend trafen, im alten Finnland bei den Bauern und Waldarbeitern noch Märchen erzählt und alte Lieder der Kalevala gesungen.
So ist es dringend an der Zeit, wieder zu verstehen, dass Kinder nicht kleine Erwachsene sind, denen man intellektuell nur lange genug zureden muss, damit sie uns verstehen und folgen. Sondern dass sie oft traumhaft in ganz anderen Räumen und Zeiten sich aufhalten und sie sich nur gesund entwickeln können, wenn wir sie verweilen lassen und nur vorsichtig da heraus wecken dürfen zu Zwecken des modernen Lebens.
Für die Zeit nach dem Spielalter hat das Konsequenzen für eine neue, kind- und zeitgemässe Pädagogik. Wer verstanden hat, aus welchen Tiefen und Quellen das kindliche Lernen sich speist, wer vor allem verstanden hat, dass jede kindliche, dass jede Individualität ihrem Wesen nach eine lernende ist, der wird versuchen, selber einzutauchen in diese Tiefen, bevor er wagt, Kinder zu erziehen und sie zum Lernen zu bewegen.
Er wird dazu den ersten und wichtigsten Schritt tun, indem er sich hineinbegibt in seine eigene kindliche Erinnerung. Aus dieser wird er ablesen, dass die heutigen Kinder weiter sind, als er es als Kind gewesen ist. So wird er aus seiner eigenen wiedergewonnenen Kindhaftigkeit zuallererst ein Lernender von dem Kinde sein, das vor ihm steht. Er wird einzutauchen versuchen in die noch träumenden Bewusstseinsschichten, die sich ihm darbieten. Und er wird daraus lernen, abzukommen von der unbewussten und zähen bürgerlichen Haltung, in einer Schulklasse Unterricht zu betreiben, wie das noch immer noch bis heute getan wird.
Er wird wissen, dass nichts bei dem Kinde ankommt, was nicht trifft auf das in ihm angelegte Interesse. Das aber will frei bestimmen über das von ihm Aufzunehmende. Der Freiheit des Kindes, die immer eine Freiwilligkeit sein möchte, wird entsprochen durch die Anlage eines Gartens der Anregungen, eines reichen Ateliers der Tätigkeiten, einer Werkstatt des noch Unvollkommenen, in welchen Kinder wie Erwachsene gemeinsam die Fähigkeiten, die Kenntnisse, die Produkte erarbeiten, von denen die Grossen wie die Kleinen gleichweit entfernt sind, bei denen die kindlichen Individualitäten allerdings näher an der geistigen Kenntnis sind, was für die Zukunft gebraucht wird.
Vor allem wird der schon Erwachsene, der immer noch ein Lehrer genannt wird, aber ein Lernender sein sollte, an den Kindern lernen, jünger zu werden. Die Welt, wie sie heute ist, geht zugrunde an kalter Schläue und öden Fakten, die alt sind und alt machen. Die heutigen Kinder kommen, um die Botschaft des Jüngerwerdens zu verkünden. Es heisst in der Bibel, zu werden wie die Kinder. Da ist das Neue Evangelium des Jungwerdens. Die Zeiten des alten chinesischen Reiches sind lange vorbei, wo man sich an der Weisheit der Ahnen orientierte. Wo sind noch Alte, an denen man sich orientieren könnte?
Die Kunst des Jungwerdens als solche zu erkennen, zu erüben und sie zum Fundament der Pädagogik werden zu lassen, das ist die Alternative zu dem modernen Untergangspanorama, das weniger wirklich vorhanden ist, als dass es uns, Angst und blindes Handeln erzeugend, von einer gewissen Weltecke her eingeprägt wird.
Jede neue Kultur entsteht als Keim im Verborgenen. Dem Unheil der Gegenwart kann weder entronnen noch mit Gewalt begegnet werden. Keime legen ist unser Auftrag und zuzusehen, dass die kommenden Gewalten die Keime nicht erreichen. Nur in der Begegnung mit dem Kind, mit dem Kindlichen ist Hoffnung und wirkliche Hilfe.