Individuelle experimentelle Interaktion oder genetisches Lernen
Die Arbeit mit den Kindergartenkindern des Kindergartens Bienenkorb im Sinne des Projektes Sinnbildung im Kindesalter geschieht durch individuelle experimentelle Interaktion, das heisst durch gemeinsamen forschenden Umgang mit Substanzen, Prozessen, Produkten, Gegenständen bei passenden Gelegenheiten während des Spieles der Kinder im Tageslauf oder mit den älteren (Schul-) Kindern zu bestimmten Zeiten. Beispielsweise reibe ich Zitronenschalen, mische ich das Geriebene mit gekochtem Zuckerwasser, fülle dies in ein Glas. Die Kinder kommen, wollen schmecken, riechen, helfen. Oder ich schnitze und bearbeite interessante Ästchen, die ich im Wald aufgelesen habe, frage die Kinder immer wieder um Rat, wie ich sie beschneiden oder behandeln soll, wasche, trockne und öle sie dann, wobei das Olivenöl dann gekostet und eingerieben werden will. Die Ästchen gleichen Tieren oder seltsamen Wesen und man kann sie legen wie Rätselzeichen, die die Fantasie anregen und Erinnerungen wecken an Orakel oder Labyrinthe, die Anfänge menschlichen Denkens.
Wichtig sind auch Kieselsteine vom Rhein, die von den Kindern sehr begehrt sind und die ich immer in der Tasche zum Verschenken habe. Die Weisen aller Kulturen wussten Steine zu schätzen und so auch die Kinder. Beliebt sind Scherben von farbigem Glas oder Keramik, gefunden am Wegesrand oder am Bach, die immer eine Stimmung von Geschichte mit sich tragen, was die Kinder spüren und schätzen.
Nun kommt es darauf an, aus den entstehenden Situationen kleine Interaktionen werden zu lassen, bei denen ich durchaus auch von den Kindern lerne. Durch Zulassen, Mitmachen oder auch Zurückweisen, durch Danken, Bitten, Loben, Tadeln – alles immer aus der handwerklichen Situationen, durch Abspüren von Zuneigungen und Abneigungen, die die Kinder haben in Bezug auf Substanzen, Prozesse, aber auch zu mir und zueinander, bilden sich im Umgang mit den äusseren Dingen immer auch innere, seelische und soziale Erfahrungen und Verhältnisse.
Insgesamt entsteht aus der Situation und im Augenblick immer eine kleine künstlerische Zeit-Werkstatt, ein tätiger sozialer Innenraum, der für alle Beteiligten lehrreich und immer freilassend ist. Wenn es da einen Lehrplan gibt, dann liegt der immer in dem hinterher zu Beschreibenden, dem Arbeitsbericht, den ich für mich kurz notiere und über den wir oft unter den Kollegen sprechen. Manche lehrreiche Situation wird dann aufgeschrieben im seit vielen Jahren geführten „Goldenen Buch“. Der Hintergrund solcher Arbeit ist das von mir (wieder-) entdeckten Gesetz der kindlichen Kulturwiederholung im Spielalter, das früher durchaus bekannt war, dann aber vergessen wurde und das ich in meinen drei Büchern über Kindergartenpädagogik und in manchen Aufsätzen beschrieben habe.
Ich bin also mit den Kindern zusammen und mache irgendwelche Sachen, welche die Kinder schätzen. Was mache ich? Was äusserlich beliebig und zufällig aussehen mag, hat einen ernsten und bewussten Hintergrund und die Erfahrung eines langen Lebens. Ich knüpfe an dem Spiel und an dem Interesse der Kinder an. Das Spiel aber ist die Mutter, ist der Keim allen Lernens auf allen denkbaren Gebieten, also auch dem, was später die Wissenschaften und die Künste sind.
Geht man im Spielalter und später dann im Unterricht vom Interesse der Kinder aus und von den Gegenständen und Vorgängen, die dieses Interesse wecken, dann arbeitet man von der Wurzel aus, von der Wurzel des Lernenwollens des Kindes, aber auch von der Wurzel der Entstehung der Dinge, die man mit dem Kind betrachtete. Wissen und Können wachsen mit dem leiblichen und seelischen Wachstums des Kindes.
Diese Art der Pädagogik nennt man genetisch, das heisst aus der Entstehung, aus der Genesis heraus. Einer meiner grossen Lehrer, der Pädagoge und Physiker Martin Wagenschein (1896-1988) drückt das so aus:
„Genetisch zu lehren, gehört zur Grundstimmung des Pädagogischen überhaupt. Pädagogik hat mit dem Werdenden zu tun: mit dem Werden des Menschen und – im Unterricht, als Didaktik – mit dem Werden des Wissens in ihm. Die sokratische Methode ( die Methode des hervorrufenden Gespräches) gehört dazu, weil das Werden, das Erwachen geistiger Kräfte, sich am wirksamsten im Gespräch vollzieht. Das Exemplarische (das Anschauen des Einzelgegenstandes) gehört dazu, weil ein genetisch-sokratisches Vorgehen sich auf exemplarische (beispielhafte) Themenkreise beschränken muss, und auch kann. – Umgekehrt: ein streng exemplarisches Verfahren muss genetisch sein. Denn die besondere Art Gründlichkeit, die zu ihm gehört, ist erst mit dem Attribut des Genetischen ganz erreicht. (Also wenn man sich mit Interesse in den einzelnen Gegenstand oder Vorgang vertieft).“
Lange Zeit habe ich mit den älteren Kindern, die in die Schule kommen, in dieser Art gearbeitet und mit diesen dabei das Projekt Sinnbildung im Kindesalter entwickelt. Da dieses Jahr die ältesten Kinder noch sehr klein sind, möchte ich schon mit ihnen beginnen, muss dann aber meinen Ansatz etwas ändern. Alles hat noch vom Interesse des Spieles auszugehen, und auch ich muss mich ins Spiel versetzen, wenn ich die Inhalte angebe und den Kindern vorangehe. Spiel aber heisst Freiwilligkeit, und indem ich die Freiwilligkeit der Kinder respektiere, habe ich die Möglichkeit, mit den Kindern zusammen deren Selbstbestimmungsfähigkeit zu entwickeln. Die Fähigkeit der Selbstbestimmung steht in der Mitte zwischen dem Lernen an den Verhältnissen, die von aussen kommen, und dem Inneren, das geistig, seelisch und leiblich wachsen und reifen will. In der Kindheit entscheidet sich, ob der Mensch sich selbst zu bestimmen lernt oder ob er von aussen bestimmt wird.
Wenn man so, also aus den Wurzeln des kindlichen Interesses heraus mit ihnen arbeitet, entdeckt man, dass alles echte Erkennen ein Wiedererkennen ist. Wenn wir dann unsere Erfahrungen aus unserer eigenen Kindheit befragen, so wissen wir, dass uns nur das interessiert, was wir als verwandt empfinden. Das genetische Lernen aus den Wurzel heraus legt im Kind die Fähigkeit an, das Wissen organisch-konzentrisch aus dem lebendigen Zusammenhang zu erwerben. Wer in diesem Sinne seine spätere Bildung vollzieht, wird sie immer verbinden mit seinem Leben, mit seiner Biografie. Ein solcher Mensch wird reifen mit seinem Wissen, weil alles Wissen aus Lebenserfahrung stammt. Wissen ist dann immer auch Nahrung, die gekaut und verdaut werden muss, um gedeihlich zu sein.
Gerade im ersten Lebensalter, in dem des Spieles, ist die Gelegenheit ein Fundament zu legen, auf dessen Breite und Tiefe das ganze spätere Leben aufbauen kann, ein Fundament der Erfahrungen, bei denen alle Sinne beteiligt sind, als ein reales Gegengewicht gegen die Illusion der Virtualität, die zunehmend unsere moderne Welt beherrscht.
Dankbar bin ich, dass diese Arbeit durch die Jahre herauswachsen konnte aus dem Kindergarten Bienenkorb, unter dem Schutz von Andreas Butz und Mervi Mansikkala, in diesem Kindergarten, dessen Entwicklung ich von Anfang an und seit vielen Jahren begleite.