„Die reduktionistische Naturwissenschaft ist primär auf die abstrakte Skelettierung der Phänomene gerichtet. Dies – und nichts Anderes – gilt als Wissenschaft. Hier feiert der rationale Geist seine größten Triumphe. Dass das Lebendige dabei verdorrt oder gar nicht erst in den Blick gerät, gehört zur Negativseite dieses Siegeszuges.“ – Jochen Kirchhoff, Professor an der Humbold-Universität Berlin
Ich hatte einst einen Studienkollegen bei meiner Lehrerausbildung, der sich die französische Sprache aneignen wollte, indem er das Wörterbuch vom Anfang an auswendig lernte. Zu meiner Zeit in Schweden wurde schaudernd noch von einem Deutschen erzählt, der zuhause eine Sprache gelernt hatte, von der er glaubte, es sei Schwedisch und der sich lange über die Schweden ärgerte, die diese Sprache nicht verstehen wollten, bis er zornig nach Deutschland zurückging. Systematisch und gar wissenschaftlich ist nicht das Leben, aber das echte Lernen ist aus dem Leben geboren. Und deshalb müssen wir von dem Leben lernen, wenn wir das Lernen verstehen wollen.
Wissenschaft ist exakt und entwickelt Systeme, die sich jetzt auch auf die Schulen, jetzt sogar auf die Kindergärten ausbreiten. Oft aber kann man Wissenschaft dabei ertappen, dass sie nicht mit dem vernünftigen Denken zusammenpasst. Systeme sind Ordnungen, die Menschen Sachzusammenhängen auferlegen, welche zwar die Überschaubarkeit erleichtern, aber den Sachen selber nicht dienen, die aus dem Leben entstanden sind. Wo dient die Meteorologie dem Wetter, wo die Botanik den Pflanzen, wo die Physik der Welt, welche die physikalischen Erscheinungen doch erst hervorgebracht hat?
So ist Grammatik durchaus notwendig zum Verständnis einer Sprache. Wer sich aber eine Sprache nur durch Grammatik und Vokabellernen aneignet, wird immer Mühe haben, das Leben und die Seele einer Sprache zu gewinnen. Und er wird, wenn er mit Menschen dieser Sprache spricht, immer ein Fremder sein, der sich, vielleicht sogar sehr gut, aber doch nur verständlich macht. So tat ich es in Schweden als Erwachsener wie die Kinder. Ich brauchte zwei, drei Jahre, lauschte mehr als ich sprach, dann aber war diese Sprache auch der Ausdruck meiner Seele, weil meine Seele die Sprache gelernt hatte. Das heisst: ich musste erst ein Schwede werden, um als Schwede zu sprechen.
Da geht der Bub von zehn Jahren hinter seinem Vater her, sie kommen aus dem Wald, und zieht ein meterlanges Rindenstück hinter sich her. Wir erinnern uns selber, was so ein Kind fühlt. Von Zufriedenheit, ja von Glück kann man sprechen, und die Rinde ist nicht wertloser Abfall, sondern ein Schatz. Wer sich die Mühe machen wollte und mit Kenntnissen der Menschenkultur da hineinleuchtet und seine eigenen Kindheitserfahrungen mit einbezieht, der kann sagen: mit diesem Rindenstück und allem, was der Bub dabei bewusst und noch mehr unbewusst erlebt, hat er eine der Grundlagen gelegt, die ihm, über das Erwerben von blossem Wissen hinaus, Lebenserfahrung, ja Kulturerfahrung vermittelt.
Echte Erfahrungen des Lebens wie der Kultur gewinnt man nie systematisch, sondern konzentrisch. Was an solchen Erfahrungen objektiv ist, wird immer gewonnen durch freudige oder leidige Erlebnisse, also immer durch ein Subjekt, das sich wandelt und weiterentwickelt durch die Erfahrung. Ein wissenschaftliches System gelingt nur, wenn man Bestimmtes ins Auge fasst und anderes ausschliesst. Doch Erfahrung nimmt das Leben, wie es kommt, falsch oder richtig, gut oder schlecht, denn nur aus einem Ganzen kann das Individuum lebendige Nahrung ziehen.
So ist Lernen viel eher mit der Nahrungsaufnahme zu vergleichen, wo man isst, was einem schmeckt, aber auch, was einem bekommt. Übel wäre der beraten, der Nährstoffe, Vitamine und was dazu gehört, systematisch aufnehmen wollte, zudem nach einem Plan und so schnell wie möglich. Noch ist nirgends wirklich erkannt, dass alles Lernen und auf allen Gebieten nicht nur den Kopf erfüllt, sondern die Seele, den Willen und damit auch den Leib verändert. Bekömmlich ist, was aus Lebenssituationen entstanden, sich kreisförmig und je nach den Bedürfnissen und Notwendigkeiten einer Persönlichkeit aus der Fülle dieser Situation gewinnen lässt.
So wurde einst zu Wilhelm von Humboldts Zeiten Bildung verstanden. Ohne Genuss geht das niemals, auch wenn nicht selten Mühe, ja Leiden dem Geniessen eines Lernerfolges vorausgehen mögen. Wo sind die Ur- und Vorbilder solchen Lernens, welches, wenn das Ziel es erfordert, Schmerz, Mühe und Leiden einbegreift? In der Kindheit und in ihrem Spiel. Nichts Leichtes und Beliebiges ist das Spiel und nicht ganz ernst zu Nehmendes, sondern es geht unter seiner scheinbar leichten Oberfläche ums Leben, um ein Leben, das in allen seinen Folgen vorahnend vorbereitet wird – im Spiel.
Der Bub mit seinem Rindenstück bereitet mit der Auswahl dieses Gegenstandes und der an ihm gewonnenen Erfahrungen, die immer individuell sind, das vor, was die Grundlage seines späteren Lebens sein wird, mit allem den diesem eigenen Freuden und Leiden. Wo die heutige Wissenschaft sich auf das Wesentliche beschränkt und das Unwesentliche ausschliesst, also die Wirklichkeit reduziert, so macht die konzentrische Erfahrung das Gegenteil: sie bereitet scheinbar Unwesentlichkeiten in Fülle vor, aus denen dann auf geheimen Wegen die Wesentlichkeiten werden, die das ganze spätere Leben tragen. Und man kann ein Kind gerade dadurch schwächen, dass man es auf erwachsene Wesentlichkeiten festlegt, die das Lebendige, das heisst das unvollkommene Erscheinende und Werdende ausschliessen.
System ist immer voller Absicht und sucht den Nutzen, das konzentrische Erfahren des Lebens ist absichtslos, und sein möglicher Nutzen zeigt sich oft sehr viel später. Was aber verschafft dem Kind im Spiel, wenn es seinen Kieselstein, sein farbiges Laubblatt, den krummen Stock, die grüne Raupe gefunden hat, das Gefühl des Glückes? Das Gefühl des Glückes im Spiel entsteht immer im Erleben von Sinn, von etwas umfassend Sinnvollem. Was das Kind im Suchen nach Sinnvollem endlich findet, ist Nahrung, ist schmeckbar, ja kostbar. Es ist in jedem Einzelgegenstand gleichsam ein Zipfel der ganzen Welt, somit nicht unähnlich einer religiösen Kommunion, einer Vereinigung mit dem Zentrum des Lebens.
So sind Steine, vor allem solche, die auf weiten Wegen vom Wasser und von der Zeit geschliffen sind, wenn sie das Kind in der Hand hält, Weltmittelpunkte, unbewusste, reale und nüchtern religiöse Gegenstände, nicht unähnlich Symbolen und Götterbildern so genannter primitiver Religionen. Wenn aber später gelernt werden soll, was dem Kind, dem Menschen nicht in diesem nüchternen Sinn anbetungswürdig ist und als lebensgemäss erlebt wird, dann wird der innere, in der Kindheit gewonnenen Sinn für das Sinnvolle betrogen.
So wie jeder Mensch in seiner äusseren Gestalt ein Ordnungsprinzip darstellt, so setzt sich diese Ordnung nicht nur in der ganzen Körperlichkeit, sondern auch im Seelenleben fort. Warum sollen in der Seele nicht auch Ordnungsprinzipien sein, die sich sinnvoll aussuchen, was sie von aussen sich aneignen und innerlich verdauen sollen? Verdauen heisst, das Erworbene an den richtigen Platz zu bringen und Uneigenes tunlichst auszuscheiden.
Wenn wir weit zurück gehen in der Geschichte der Philosophie, wo sie noch einem naiven, das heisst auch kindlicheren Stadium war, finden wir Urgedanken, Urprinzipien, die wir versuchsweise anlegen können auf das Lernen des Kindes. So spricht Aristoteles von den zehn Kategorien, die gleichsam die Signatur alles im Leben Vorhandenen ausmachen. Diese sind: Das innere Wesen oder die Idee einer Sache, die äussere Erscheinung davon, deren Qualität, deren Quantität, deren Verhalten im Raum, deren Verhältnis zu der Zeit, deren Aktivität oder Tätigkeit, deren Passivität oder Erleiden, deren Lage in der Welt, deren Verhältnis oder Relation zu den anderen Sachen in der Welt.
Was hier abstrakt und als ein theoretisches Thema für Philosophen erscheint, war von Aristoteles gefunden als Denkinstrument, um die Wirklichkeit zu erfassen. Wenn das heute noch gilt, dann müssten wir das in unserem Erleben nachvollziehen und es damit auch im Erleben und Erlernen des Kindes wiederfinden können.
Was empfinden wir beispielsweise einem Stück Butter gegenüber, ein alltägliches Erlebnis? Butter, also ihr Wesen oder ihre chemische „Idee“, gibt einen anderen Eindruck als der von Margarine, wir spüren das, denn die äussere Erscheinung von echter Butter ist eine andere als die von Margarine. Die Qualität der Butter, das wissen, schmecken und riechen wir sehr wohl, unterscheidet sich von der Menge, der Quantität, die für uns auch wichtig ist. Die räumliche Erscheinung, welche Form die Butter hat, ob sie als Landbutter ein Klumpen oder als übliche Butter in der eckigen Gestalt, zeigt uns auch das Verhältnis der Butter zu der Zeit. Beginnt die Form in der Wärme sich aufzulösen, dann wird Zeit sichtbar. Was aber ist die Aktivität, das Tun der Butter? Tut Butter etwas? Ja, aber sie wird erst tätig, wenn wir sie Erleiden lassen, das heisst, wenn wir sie zum Essen gebrauchen. In ihrer Hingabe an unsere Esstätigkeit wird auch sie tätig, indem sie sich im Mund und im Verdauungsorganismus wohlschmeckend ausbreitet und uns nährt. In der ganzen Begegnung mit der Butter ändert sie ständig ihre Lage und damit ihre Relationen, ihre Verhältnisse zu ihrer Umgebung.
Ein akademischer Philosoph wird diesen Vergleich vielleicht belächeln und unwissenschaftlich finden. Was die Bildung einer Erfahrung betrifft, ist das Beispiel für jeden Menschen nachvollziehbar. Wenn wir es wollen, können wir alle unsere Erfahrungen in dem Schema der aristotelischen Kategorien wiederfinden. Bezweifeln wir das, dann steht uns der Weg offen, andere oder weitere Prinzipien oder Merkmale einer Sache zu entdecken. Nur werden wir zu achten haben darauf, dass sie für alles, was uns begegnet, zutreffen. Aber eindeutig ist, dass alle Erscheinungen Merkmale haben, sonst würden wir sie ja nicht merken.
Wäre es so, dass alle Sachen oder Erscheinungen in der Welt, denen wir uns zuwenden können, diese zehn Grundeigenschaften haben, dann ist die Frage, ob wir in uns auch eine Entsprechung haben, die diesen äusseren Kategorien entspricht. Das heisst: stimmt unser Inneres mit dem Äusseren überein, und haben wir ein Ordnungsinstrument in uns, das Äussere zu begreifen?
Wenn wir bei dem Beispiel der Butter bleiben, dann haben wir zunächst einen Gesamteindruck. Lieben wir Butter und ist die vorhandene Butter appetitlich, dann läuft uns vielleicht das Wasser im Mund zusammen. Also ist in uns eine Instanz, die sich zur Butter so verhält, dass der Eindruck bis in den Körper wirkt. Gehen wir von diesem Gesamteindruck aus, dann können wir versuchen nachzufühlen, ob zu allen zehn Kategorien, die im Äusseren auftauchen, im Inneren, in der Seele, aber auch in der körperlichen Reaktion Entsprechungen vorhanden sind. Haben wir also in uns einen Sinn für die äusseren Erscheinungen der Butter? Die Form sehen wir, also den Raum, den die Butter einnimmt. In der gelben Farbe, in der glänzenden Oberfläche und anderen, feineren Wahrnehmungen nehmen wir deren Erscheinung wahr. Durch die Erscheinung mutet uns an das, was uns als Wesen der Butter diese von etwa Margarine unterscheiden lässt. Die Quantität ist aussen vorhanden und entsprechend innen zu spüren, so auch parallel zu den äusseren Kennzeichen der Qualität. Diese könnte keine sein, wenn wir sie nicht als solche spüren würden. Bei genauer Prüfung werden wir alle äusseren Prinzipien ebenso als innere wiederfinden.
So können wir sagen: in unserem Inneren gibt es exakte Wahrnehmungsinstrumente, die alles, was uns aussen begegnet, erfassen können. Die zehn Kategorien des Aristoteles sind eines dieser Instrumente. Wir können sie bezeichnen als Teile eines Sinnes für die Wahrnehmung und Beurteilung von dem, was uns von aussen zukommt. Dieser Sinn ist es aber auch, der Inhalte, von denen wir lernen, als sinnvoll, verwandt, uns weiterführend und uns bereichernd heraussondert und auswählt aus der uns umgebenden Wirklichkeit.
Richten wir die Aufmerksamkeit auf diesen Sinn in dem Kinde und Schüler, mit dem wir zu tun haben, dann lernen wir von diesem Kind, unserem Schüler, was für ihn gedeihlich und angemessen ist. Das pädagogische Organ für diese Aufmerksamkeit zu entwickeln und es ständig in der Wechselwirkung mit den Kindern weiterzuentwickeln, das macht den guten Lehrer, Erzieher, Kindergärtner aus.
Alles Lernen und Lehren wird so lebendigen Inseln gleichen, die sich grün und in allen Farben immer mehr im Kinde wie im Pädagogen zusammenschliessen zu Landschaften und Kontinenten der Bildung, einer Bildung, welche die Wirklichkeit der Welt nachahmt und sie nicht ausbeutet, sondern, indem wir ihr Inhalte entnehmen, sie gleichzeitig befruchtet und bereichert. Denn die Welt will erkannt sein und sieht uns als einen helfenden Teil von ihr.
Oktober 2014