Alle Zeichen der gegenwärtigen Zivilisation deuten auf eine sich anbahnende Katastrophe. Diese wird alle Völker, alle Erdteile, sie wird die Menschheit und die ganze Erde ergreifen. Eines ihrer Kennzeichen ist auch, was zunächst widersprüchlich erscheint, eine unübersehbare Fülle von scheinbaren oder wirklichen Hinweisen, wie diese Katastrophe zu vermeiden wäre. Dieser Aufsatz, diese Zeitschrift, machen davon keine Ausnahme. Ein neu erschienenes Buch mit dem Titel „Kollaps“ sollte hier beachtet werden, nach der Rezension im „Spiegel“ Nr. 50/2005 (Verfasser Jared Diamond). Es belegt ausführlich anhand der Darstellung vieler vergangener Kulturen, was zu deren Zusammenbruch geführt hat.
Das Hauptmerkmal des jeweiligen Sich-Selbst-Zerstörens ist unüberschaubar gewordene, nicht mehr rückgängig zu machende Kompliziertheit, ist das Hineingeraten in Verhältnisse, die in sich die Kräfte der Selbstzerstörung tragen. So wird unsere Zivilisation zugrunde gehen, weil die Hinweise der Rettung auch im guten Sinne zu kompliziert, zu vielschichtig sind, zu sehr Vorstellen, Bereden, Regelungen und äußeres Steuern voraussetzen. Diese Einsicht ist nicht neu. Einer, der dies deutlich erkannte, hieß Hitler. Seine Vereinfachung der Verhältnisse, wie auch die des Sowjetsystems und anderer offener und verdeckter Diktaturen hatte Folgen, an denen wir alle tragen. Das sich vom Westen anbahnende „korrekte Denken“, Steiner nennt es das Allgemeine Denkverbot des Westens (GA 107 4. April 1916), ist deutlich im Kommen, als „die endgültige Vereinfachung für alle Zeiten“, die ihre Schatten vorauswirft.
In diesem weltentscheidenden Zusammenhang steht das Spiel, so wie es Schiller in seinen Briefen prophetisch beschrieben hat. Schiller, der überaus Komplizierte, findet in der Begegnung mit Goethe das Modell einer wahren Vereinfachung. Es ist die Einhüllung alles bewusstseinsmäßig und seelisch Auseinanderstrebenden und immer neue Vervielfältigung Erzeugenden in der ätherischen Hülle des Metamorphosenwesens, das Goethe als Gesetz der Natur gefunden, das Schiller in Gestalt des Spieles aber auch für das Wesen der Seele und des sozialen Zusammenwirkens als gültig befunden hat. Meinen kurz nacheinander erschienenen Schriften (1) liegt die Beschreibung dieses Sachverhaltes zugrunde.
Schillers Spruch: Suchst du das Höchste, das Größte, die Pflanze kann es dich lehren. Was sie willenlos ist, sei du es wollend, das ist’s., enthält das Prinzip lebens- und geistgemäßer Vereinfachung. Der Christus drückt es so aus: Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, kommet ihr nicht ins Himmelreich. Rudolf Steiners Goetheanumbild des Ich-bezogenen Faust, dem das im Ätherischen fließende Kind helfend entgegenkommt, sagt das gleiche. Die Kindheits- und Wachstumskräfte nicht als Kräfte der Vergangenheit, auf die wir sehnsüchtig zurückblicken, sondern als aus der Zukunft entstehende, gleichsam hilfreich saugende Verhältnisse sind dann unsere Rettung, wenn wir uns auf sie – auf rechte Weise – einlassen.
Nun ist gerade heute das Spiel schon in seinem eigentlichen, dem kleinkindlichen Stadium bedroht. Alle Kenner wissen, dass die Verhältnisse es zum Absterben bringen. Von verschiedenen Seiten kommen Angriffe, die man mit den anthroposophischen Begriffen als ahrimanische und als luziferische zu bezeichnen hat. Die Waldorfkindergartenpädagogik ist in diesem Zusammenhang keine Hilfe, weil sie das kindliche Spiel gleichsam naiv voraussetzt und weil seine eigentlichen Gesetzmäßigkeiten nicht erkannt und nicht erarbeitet werden. Da ist vor allem die Erkenntnis, dass im Spiel des ersten Jahrsiebts von innen heraus die Kulturfähigkeit erübt werden möchte. Dies im Sinne des psychogenetischen Grundgesetzes, welches eine Entsprechung des biogenetischen Grundgesetzes der Embryonalentwicklung darstellt und das der vergessene, bedeutende Kulturhistoriker Frederik Adama van Scheltema (Die geistige Wiederkehr 1954) im Sinne einer damals noch intakten kindlichen Spielfähigkeit ausführlich beschrieben hat. Das ist der lebendige Rückbezug der Spielfähigkeit, die in heutiger Zeit des Spielverlustes, aber auch der gesteigerten Freiheitsfähigkeit und vor allem erhöhter geistiger vorgeburtlicher Vorbereitung neu zu greifen ist. Aus dem vorgeburtlichen individuellen Vorbereiten des kindlichen Menschen (Rudolf Steiner GA 161 2. Februar 1915) geht aber auch der zukünftige Aspekt der Spielfähigkeit hervor, der sich auf die Mitte der entstehenden Biographie bezieht. Rudolf Steiner fordert deshalb vom Erzieher „prophetische Fähigkeiten“ (GA 177 8. Oktober 1917). Wird aber das Spiel, auf das heute sehnsüchtig und oft sentimental herab- und zurückgeblickt wird, in seine Würde und Bedeutung neu und im Sinne der Geisteswissenschaft eingesetzt, dann rangiert es nicht unter der Schule und unter dem Erwachsenen, sondern es ist Ziel und Leitmotiv einer neuen Kultur. Spiel in diesem Sinn ist eine höhere Kategorie als Pädagogik, und diese, wie alle menschliche Entwicklung, leitet sich von diesem ab. Schiller deutet in dem so genannten Ästhetischen Zustand darauf hin, den er eine „Schenkung der Menschheit“ nennt (21. und 22. der ästhetischen Briefe).
In meinem Schillerbuch habe ich diesen Zustand mit dem Buddhawerden des Christus in Zusammenhang gebracht. Ein Einschlag der Buddhakraft ist bei Schiller durch die Vermittlung von Goethe zu spüren. Und hier liegt das Zentralmotiv der lebendigen, samenhaften Vereinfachung, das heißt Einhüllung der ansonsten auseinanderstrebenden Kräfte des Bewusstseinsseelenzeitalters. Der Hinweis Rudolf Steiners auf seinem Sterbebett, er möchte die Pädagogik um 180 Grad drehen in Richtung auf das Künstlerische hin (und weg vom Nützlich-Bürgerlichen) bezieht sich auf diese geistigen Verhältnisse (Rudolf Grosse)
Die stärkste Bedrohung für das kindliche Spiel – neben der die Spielkräfte des Menschen aussaugenden elektronischen Welt, die eine luziferisch-ahrimanische Vernichtung bedeutet – ist die nun überall ihr Drachenhaupt erhebende so genannte „Früherziehung“, die zum Beispiel in Deutschland und in gewissen Kantonen der Schweiz in festen Lehrplänen für Kindergärten sich buchstäblich niederschlägt. In England soll es bereits zu erreichende Leistungsnormen für staatliche Säuglingskrippen geben, die von Inspektoren kontrolliert werden, wie auch bereits Zeugnisse für Kindergartenkinder in Schweden! In Baden-Württemberg werden wir auch in unserem Kindergarten damit konfrontiert. Hinter der Industrienorm, die durch die Pisa-Untersuchung (welches Symbol!) zu einem globalen Menschenmaß zu werden droht, steht das Bild des Menschen als das eines biologischen Computers. Dieser kann nach Belieben programmiert und benutzt werden. Die menschliche Biographie hat in diesem neuen Menschenmaß keine Bedeutung mehr. Spiel ist im besten Fall eine Form von Animation, die man dem Kinde zugesteht, um verordnete Leistung zu bringen. Seltsamerweise protestieren Psychologen und Psychotherapeuten der verschiedenen Richtungen nicht, obwohl sie doch sonst über die Bedeutung frühkindlicher Einflüsse sich im Klaren sind. Ein Umgehen solcher Gesetze im engen Rahmen können Projekte sein wie die der Basalstufe der Berner Rudolf Steiner-Schule, welche die Kindergärten in den Bereich der Unterstufe einbezieht und so in pädagogischen Schutz nimmt.
Eine neue, verführerische, weil scheinbar einfache Art an das Spiel heranzugehen, kommt, wie so manches, von Amerika. Sie hat sich den ultimativen Titel des „ursprünglichen Spieles“ (original play) zugelegt und strebt die Unschuld des tierischen Verhaltens als Modell des Spielerischen überhaupt an. Sie ist, wie ihr Erfinder es beschreibt (Medizinisch-pädagogische Konferenz 29/Mai 2004) negativ der Kultur gegenüber und sieht in dieser bloß ein reflektierendes, angsterzeugendes Störelement in Bezug auf das unschuldige Spiel. Doch bleibt die Logik auf der Strecke, wenn das Spiel des Tieres und das mit ihm gleichgesetzte des Kindes als das ursprüngliche bezeichnet wird. Für das spielende Kind ist ein Tier, wenn überhaupt, ein Objekt unter unendlich vielen. Und wenn es mit einem Tier spielt, dann hat es Vergnügen daran solange, wie das Tier dem Kinde folgt. Das Kind lernt nicht vom Tier, nicht mehr als von anderen Spielobjekten. Und das Kind lernt, nicht das Tier. Denn der Mensch erzieht sich selbst im Spiel, das Tier nicht. Wenn etwas „original“ ist, dann ist es ein Mensch, der sich herausnimmt, Tierspiel ursprünglich zu nennen. Das aber ist nicht Spiel, sondern die Projektion eines Erwachsenen mit der Sehnsucht nach Spiel. Wenn ein Spiel ursprünglicher und unschuldiger ist als das des Kindes, dann ist es das der Elemente Wasser, Licht, Luft, Feuer. Hier ist die vollkommene Reinheit des Ursprunges. Aber der Mensch, das Kind ist es, das sich am Spiel der Elemente erfreut. Nur wer sich freut, spielt wirklich. Wer freut sich am Spiel mit den Tieren? Der Mensch. Wer projiziert in das Tierverhältnis die Ursprünglichkeit des Spieles? Wiederum der Mensch. Wer hat also das Bild der Ursprünglichkeit in sich? Es ist der Mensch. Wo liegt also die Originalität? Im Menschen, nicht im Tier. Das originale Spiel liegt im Entdecker selbst, da, wo es hingehört und zwar als unbewusste Idee. Diese hat er, weil er ein Kind war, das spielte, und nicht ein Tier.
Hier zeigt sich die Sehnsucht, welche die Subjekt-Objektspaltung, die durch das Bewusstsein entsteht und die das große ungelöste philosophische Problem bis zu Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit darstellt, durch eine einfache Methode zu überwinden sucht, ganz ähnlich der einstigen, von Amerika kommenden janovschen Primaltherapie, die dem Menschen durch den Urschrei die Unschuld zurückgeben wollte. Da man das Denken ausschalten will, also im bloßen Fühlen und Handeln zu verbleiben meint, verschafft man sich keine Klarheit über die Eigenart des tierischen Wesens im Unterschied zu dem des Menschen. Wenn das Tier spielt – und Psychologen und Verhaltensforscher wissen dies längst (2) – dann muss es spielen, es kann nicht nicht spielen, denn es ist organisch gebunden. Im tierischen Spiel erübt es leiblich vorgeformte und verengte Instinkte, die es als seinem Tierwesen zugehörige braucht. Es spielt sich also in Instinktformen hinein, damit also in die absolute Unfreiheit. Dann ist, in einem frühen Stadium, das Spiel des Tieres zu Ende und wird im Kampf- und Balzbereich bloßes, festgelegtes Ritual. Was an dem Spiel des jungen Tieres so oft entzückend und berührend wirkt, ist das Menschen-Kind-Ähnliche. Es ist die im Tiere auftauchende Erlösungsmöglichkeit von der Bannung an die Tierform, die uns so seltsam tief berühren kann. Menschenspiel führt zur Arbeit, es ist Überfluss der echten Arbeitswelt (Heinrich Marianus Deinhard). Das Tier kennt die Arbeit nicht, wie es die Kunst nicht kennt. Und den Menschen mit dem tierischen Spiel zu imprägnieren, heißt ihn der Fähigkeit zu berauben, im Leben Leistung gegen Widerstand zu erbringen, das heißt schöpferische Arbeit, auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Leiblichkeit und dem Schicksal. Spielende Erwachsene um das spielen-sollende Kind herum korrumpieren die Spielfähigkeit und gaukeln eine Ausnahmewelt vor, die sich selbst genussvoll spiegelt und sich im Kreise der eigenen Wünsche dreht, statt auf die ernsten und fordernden Wesen der Weltentwicklung zu schauen. Echtes Spiel des Kindes gedeiht nur in einer regen, musikalisierten Arbeitswelt (Rudolf Steiner), die auf objektive Produkte gerichtet ist und in der das Kind den Weltbezug nachahmt und nicht die Sehnsüchte der Erwachsenen. Viel verdienstvoller wäre es, mit Tieren so zu spielen, dass der Hoffnungsfunke der Menschenerlösung in ihnen geweckt und entwickelt wird (in der Nachfolge von Konrad Lorenz).
Nimmt man aber das Tierspiel als Modell für den Menschen, statt es als einen Appell an eine zukünftige Erlösung der Tierwelt zu verstehen, so treibt man den Menschen und treibt das Kind in ein zielloses Pseudo-Tierverhalten hinein. Natürlich fällt dann für eine Weile scheinbar die Subjekt-Objekt-Spaltung als Ursache von Angst, aber auch von Streben weg. Gleichermaßen verliert man das Spiel als kulturschaffendes Grundprinzip, und zwar nach beiden Richtungen: im Wiedererkennen vergangener Kulturepochen als ursprunghafte Forschung (im Sinne des Physikers Martin Wagenschein) und andererseits als individuelle Vorbereitung auf das Vorgeburtlich-Vorausgeschaute im eigenen Schicksal. Üben Erwachsene auf solche Weise konsequent mit Kindern, dann muss diese Art von „Urspiel“ die Folge haben, dass später in der Mitte des Lebens Unsicherheit und gerade die Ängste auftauchen, die man vermeiden wollte, einfach deshalb, weil der individuelle Schicksalsfaden abtrainiert wurde und die vorgeburtliche Vorbereitung (Rudolf Steiner) nicht mehr durchkommt. Wer einen amerikanischen Menschen, gegen den ja gar nichts zu sagen ist und dem in seiner Pragmatik zunächst alles zugestanden sein mag, von der europäischen Kultur her kommend, nicht aufklärt über die wahre, kulturschaffende Eigenschaft des Spieles, muss sich fragen lassen, welche Gründe ihn wirklich treiben. Schiller und mit ihm Goethe zu übergehen, wenn es um das Wesen des Spieles geht, muss, in Auseinandersetzung mit ihnen, begründet werden. Tut man das als Europäer nicht, dann begibt man sich des Rechtes, verantwortlich über das Menschenspiel zu sprechen. Das alte, von Ägypten herkommende Sinnbild des Spieles ist Isis, die Weltweisheit, die Horus das Kind in ihren Armen trägt. Soll nun Isis ein junges Tier tragen, oder soll Isis selbst eine Tiergestalt annehmen, als neues Symbol der Unschuld des Spieles?
Mit einem Hinweis auf Heinrich von Kleist soll diese Gedankenreihe beschlossen werden. In seinem Aufsatz Über das Marionettentheater hat er just das Problem der wiederzugewinnenden Unschuld zu verstehen und zu beschreiben versucht. Er kommt hier auf Wege, die in unserer Zeit erst durch die neue Geometrie, die der Inversion oder Umstülpung, gedanklich und praktisch gelöst werden (George Adams, Olive Whicher, Paul Schatz, Hartmut Endlich, Klaus Ernhofer, Robert Byrnes u.a.). Hier ist das Zentrum des Spieles wie der Freiheit mathematisch erfasst. Kleist hat einen denkwürdigen Anfang in Bezug auf die menschliche Bewegung gemacht. Sein Aufsatz endet mit den hoffnungsvollen Worten:
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?
Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
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(1) Werner Kuhfuss „Grundzüge eines kulturschaffenden Kindergartens“ Verlag Die Kooperative Dürnau 2004 / „Die Waldorfkindergartenpädagogik Eine Ermunterung, diese einmal von der Geisteswissenschaft her zu prüfen“ Verlag Ch. Möllmann 2005 / „Schiller Herkunft und Zukunft“ Verlag Ch. Möllmann 2005 / „Was ist die Wirklichkeit des kleinen Kindes?“ Verlag Die Kooperative Dürnau Anfang 2006
(2) Gustav Bally „Vom Spielraum der Freiheit Die Bedeutung des Spiels bei Tier und Mensch“ 1945