Heute leben wir in einer Zivilisation, in der auch noch Kultur existiert, meist als Nachklang der Vergangenheit. Was aber ist Kultur, was Zivilisation und wie verhalten sie sich zueinander?
Wenn wir sie genau unterscheiden, offenbaren ihre Beschreibungen einen völligen Gegensatz. Denn wahre Kultur ist aufgebaut auf Arbeit als Leistung gegen Widerstand, die Kraft und Überfluss für die Welt und für die Menschen erzeugt, vor allem aber der Erde etwas zurückgibt und ihr zu ihrer Gestaltung und Umwandlung verhilft. Kultur schafft Neues aus dem, was die Schöpfung dem Menschen gegeben hat. Was sie dazu aus dem Geschaffenen nimmt, gibt sie gesteigert zurück.
Zivilisation, wie sie heute verstanden wird, ist nicht anderes als die Befriedigung des menschlichen Egoismus mit dem Bestreben, Arbeit weitgehend zu vermeiden und allen Widerstand, der dem Menschen Mühe macht, zu umgehen. Die Folge ist die zunehmende Zerstörung aller Hilfsquellen und Grundlagen, von denen Kultur und Zivilisation doch abhängen. Man mag es nicht glauben, aber Zivilisation schafft nur auf den ersten Anblick Arbeit, Arbeitsplätze, Arbeitsgelegenheiten. Doch wir können es bereits sehen: die Zeit wird kommen, wo die meisten Menschen zur Produktion von Bedürfnissen nicht mehr notwendig sind, einmal, weil Maschinen und ihre Nachfolger, digitale Automaten, die Arbeit vernichten, die früher eine von Menschen geleistete war. Zum anderen, weil eine immer kleinere Gruppe von Menschen ihre immer massloseren Bedürfnisse befriedigen will auf Kosten der anderen, das heisst des grössten Teiles der Menschheit. Indem Zivilisation nicht das Ganze der Welt, sondern nur den Egoismus einer elitären Gruppe im Sinne hat, schafft sie letztlich nicht Arbeitsplätze und Arbeitsgelegenheiten, sondern zerstört sie. Wirtschaftswachstum fördern zu wollen mit dem ständigen Argument, allein dieses schaffe Arbeitsplätze, erweist sich letztlich als Illusion, ja als bewusster Betrug.
Jedoch verschwindet durch Mechanisierung und Automatisierung nicht das, was in der Welt bearbeitet werden muss, soll die Natur nicht gänzlich zerstört, sollen nicht alle Gaben der Schöpfung, von denen ja auch die gierigsten und egoistischsten Menschengruppen abhängen, vernichtet werden. Somit wird es mehr und mehr Arbeit geben, die getan zu werden hat für die Zukunft der Menschheit und der Schöpfung. Es wird mehr Arbeit sein, als Menschen mit der heutigen Kraft je zu leisten vermögen, notwendige Aufräumarbeit nach einem Zusammenbruch der gegenwärtigen Zivilisation wie auch Arbeit als Neugestaltung im Sinne der Kulturentwicklung. Dann wird sich wieder erweisen, dass es keine Natur geben kann, die nicht Kultur ist, die also erst durch Menschenhand zu ihrem Recht kommt.
Denn es gilt das Gesetz der Kultur unerbittlich, das Eckehard Wroblowski, der unermüdliche Arbeiter an der Erde, so ausgedrückt hat: Menschliche Arbeit ist durch nichts zu ersetzen. So lehrt uns die Not der Zeit, die den Untergang der Schöpfung und damit auch der Zivilisation ankündigt: Jegliche Zivilisation hat ihren Ursprung, ihr Mass und ihr Ziel in einer umfassenden Kultur, soll sie nicht der Feind allen Lebens, aller Kultur und Natur werden.
Beide, Kultur und Zivilisation, waren in früheren Zeiten eines. Sie verhielten sich zueinander wie die Kuh und die Milch. Wer das Leben der Kuh kennt, wie es sich in früheren Zeiten der Geschichte vollzogen hat und mit ihm das Leben der anderen Haustiere und der Pflanzen, die man heute noch Kulturpflanzen nennt, der weiss, dass immer die Landschaft, das heisst das Ganze der Natur pflegend und auf lange Zeiten wirkend zusammen empfunden und gestaltete wurde. Dieses Zusammenwirken geschah, um einen Überschuss und Überfluss zu erzeugen, nicht für die Menschen allein, sondern auch für die Welt, das Klima, die Weiterentwicklung der Bäume, der Getreidearten, der Gewässer, im Hinblick auf Generationen in fernster Zukunft.
Die Milch der Kuh als ein urbildliches Produkt war also eine Folge des Zusammenklanges von vielen Kräften menschlicher, natürlicher und kosmischer Art. Alle Kultur stand im Zeichen der Gestirne und deren Weisheit. Denn Kultur ist angewandte Weisheit. Zivilisation kann nur heilsam sein, wenn sie eingebettet ist in Kultur und von deren Weisheit gelenkt wird.
Noch zehren wir von den unendlichen Zeiten vergangener Kultur. Nicht ohne Grund wallfahrten unzählige Menschen zu den Orten, an denen die Denk- und Mahnmale alter Kunst und Weisheit noch erhalten sind. Doch sieht man deutlich und erschreckend bereits die Veränderung an solchen Orten wie zum Beispiel Florenz oder Chartres. Dort und an vielen Orten ist abzusehen, wann die Massen nur geniessender und somit sich selbst nur bereichernder Menschen diese Orte entleert haben werden. Katastrophen werden kommen, wie die grosse Überschwemmung des Arno in Florenz vor Jahren, welche die äusseren Zeugnisse menschlicher Schöpfung zerstören werden. Geistig werden sie vorhanden und aufzusuchen sein für den, der neue Kultur schaffen wird. Aber den nur egoistisch sich Bereichernden werden sie entzogen sein. Die enttäuschte Natur fordert ihre Substanzen zurück, weil sie sich als betrogen erlebt, soll Kunst doch die Wesen der Natur in eine höhere Schöpfung einbeziehen und erlösen. Ihre einzige Möglichkeit, Zeichen zu geben, sind Katastrophen.
Was aber sind die Kennzeichen einer neuen Kultur? Sie wird nur aus der Verantwortung für die Schöpfung, für die Erde und die gesamte Menschheit geboren werden können. Diese Verantwortung hat ihre Wurzeln in einem neuen Denken. Nur aus dem klaren Überschauen der Verhältnisse und ihrer Notwendigkeiten wird neue intuitive Fähigkeit entstehen, die notwendige umwandelnde Leistung gegen Widerstand zu erbringen, welche allein Kultur bedeutet, also Arbeit im Sinne der wahren Weltentwicklung. Aus diesem freien und hingegebenen Denken wird eine neue Art von Willen entstehen, der im Anschauen der Notwendigkeiten entsteht.
Diese neue Art des Willens ist in allen Menschen angelegt. Im Zorn und in der Wut zeigt sie sich noch unrein und wenig zielgerichtet. Andere Völker als die Deutschen haben hier Vorarbeitet geleistet und Fähigkeiten bereits entwickelt wie Worte geprägt für die neue Kraft, die über die persönliche Willenskraft hinausgeht, so die Finnen.
Die Kalevala, Mythologie der Finnen, ist auf die Zukunft gerichtet. Wenn wir deren Keim und Frucht, die ausführlich und gleichzeitig geheimnisvoll und rätselhaft als das Wesen Sampo beschrieben wird, zu verstehen suchen, so haben wir eine Ahnung der neuen schöpferischen Kraft der Zukunft, die, in ihrem Wesen unendlich steigerbar, alle Probleme und Hindernisse, die sich immer höher vor uns auftürmen, zu bewältigen vermag. Zwei Worte haben die Finnen für das, was im Deutschen Kraft heisst: voima, das ist die gewöhnliche Menschenkraft, und sisu, die dann kommt, wenn der Widerstand nicht zu bewältigen scheint und daraus eine neue Kraft sich entzündet.
Sisu ist verwandt mit dem, was in alten germanischen Zeiten die Berserkerkraft genannt wurde, der Ausnahmezustand, wenn ein Mensch die Kraft von zwölf Menschen bekam. Was bei den Germanen eine Art von guter oder weniger guter Besessenheit von übermenschlichen Wesenheiten bedeutete, ist in dem finnischen Menschen, wiederum durch eine uralte Kultur der Seele, durch lange Zeiten vorbereitet und in gesunder Weise angelegt.
Es wird vielleicht erstaunen, wenn hier gesagt wird, das der Weg der gesunden Entwicklung zu dessen unendlicher Steigerungsmöglichkeit der Kraft, zunächst ausgehend von den Fähigkeiten des mitteleuropäischen Menschen, angelegt ist in Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit. Wenn, wie Steiner an manchen Orten es ausführt, dieses in der Freiheitsphilosophie veranlagte Denken den Kopf verlässt und die menschliche Gestalt und ihre Glieder ergreift, die damit sowohl ein willenshaftes Denkorgan wie ein denkendes Instrument des umfassenden Willens wird, dann wird der Weg gefunden sein, den die finnische Mythologie bildhaft als Sampo beschreibt, die Kraft, die alle künftigen Probleme zu überwinden und zur einer unerschöpflichen Dauerfruchtbarkeit zu erweitern vermag.
Noch aber leben wir vor allem in Vorstellungen und Worten darüber. Ahnungen mögen uns weiterführen, denn der wegweisende Sinn liegt in unserem Wesen. In jedem Kind, das unverfälscht zu spielen vermag, ist das anzuschauen, was auch wir einst als Anlage der beschriebenen Kraft übten, damals, als wir noch in spielender Unschuld lebten. Diese Unschuld bewusst wiederzugewinnen als den Weg einer neuen nicht nur Kinder-, sondern Volkspädagogik ist nun an der Zeit. Sie wird uns gewährt, wenn wir ernsthaft beginnen damit.
Auch wenn wir verzagen oder uns betäuben wollen im Angesicht der sich steigernden Not der Zeit, an der Unerschrockenheit so mancher heutigen Kinder können wir erwachen. Der Keim neuer Kultur ist stündlich beim spielenden Kind.
Eckehard Wroblowski –
Ein Nachruf
2. November 1938 Herdecke – 17. September 2008 Kassel
Berufenere als ich werden einst die ganze Lebensarbeit dieses Menschen zu würdigen vermögen. Seinem Beruf nach war er Gartenbaulehrer und Steinmetz an der Kasseler Waldorfschule. Seiner Berufung und Lebensleistung nach war er einer, der die Erdkultur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Tiefe erfasst hat, wie ich es von niemanden sonst kenne. Dieses Ergreifen war buchstäblich zu nehmen: zum Beispiel als wuchtige und handgreifliche Arbeit an der Erde in der Umschichtung des Bodens auf Roggenwurzeltiefe, das heißt 1,80 Meter, als den notleidenden Bäumen helfende Tiefenbearbeitung der Wurzeln, als Hersteller weißester Holzasche und des feinsten Steinmehls beim Arbeiten mit Menschengruppen an verschiedenen Orten Europas. Wer ihn mächtige Steine heben sah, ahnte, was Arbeit an der Erde ist. „Ich könnte alles, was ich tue, Liebe zur Erde nennen“, sagte er einmal. Die Tiefe, mit der er Erdkultur – und Kultur heißt ursprünglich Erdbearbeitung – mit seinem willenskräftigen Leib und gleichermaßen mit seinem Bewusstsein ergriff, hatte ihr Gegenstück in seiner Handhabung der deutschen Sprache, wenn er, nach der Tätigkeit draußen in der Landschaft, drinnen Kulturzusammenhänge über die ganze Erde hinweg darstellte, welche in dieser Eigenart, Vielfalt, Bildhaftigkeit und Verantwortlichkeit unvergleichlich waren. Die Entsprechung von realer Arbeit und Handhabung von Sprache und Gedanken waren wie die linke und die rechte Hand eines Menschen. Uralte und heute unbekannte Wortbegriffe auf den unerwartetsten Gebieten waren ihm geläufig, und mit Staunen hörte ich ihn die vielen verschiedenartigsten Bezeichnungen für das nennen, was gewöhnliche Menschen nur Lehm nennen, wobei jedes Wort eine andere Art und Qualität bezeichnet. Er war ein Meister der Unterscheidungsfähigkeit im Tun und im Sprechen. Und er war ein Provokateur, der das Paradoxe liebte, was immer wieder zur Verblüffung zunächst ungläubiger Zuhörer führte. Wille war in solchen Hinweisen und Beschreibungen wirksam und wahrhafte Denk-Anstöße gingen von ihm aus. Zaghafte Seelen nahmen oft Anstoß an seinen Worten, an seinem Verhalten vor allem gegenüber intellektuell und unverantwortlich Daherkommenden. Provokation aber heißt Hervorrufen. Ein meisterlich Hervorrufender war er in allem, der Erde und den Menschen gegenüber. Ein solcher, der „Leistung gegen Widerstand“ einerseits erkennend und andererseits Erdensubstanz-verwandelnd als Lebenshaltung hat, nennt man einen Rosenkreuzer. Als ein solcher war er in Kassel mit seiner spirituellen Geschichte am rechten Ort, obwohl nie der Hinweis in allem Tun auf Westfalen fehlte, wo er herkam. Die westfälischen Willenseigenschaften vertrat dieser Weltmensch, das heißt hier Mitteleuropäer. Sein Selbstverständnis verband sich mit dem Sozialimpuls, den einst Freiherr Karl vom Stein als der große Gegenspieler Napoleons in entscheidender Zeit in Mitteleuropa begonnen hatte. Wie Steins staatlich-politisch-volkspädagogisches Bemühen ein wirksamer Keim und Bruchstück gewesen war im Kulturleben Deutschlands, so ist Ekkehard Wroblowskis Lebensarbeit von einer heute noch nicht überschaubaren Keimhaftigkeit, aber auch von einer übermenschlichen Sprengkraft, die ihn von innen her – im Gegensatz zu der gesunden Erscheinung, die er immer bot – als eine rätselhafte und unerkannte Krankheit durch Jahre durchzog und ihn endlich leiblich dahinraffte, geistig aber – das erzählen die, welche bei seiner Aussegnung dabei waren – befreite.