Im Laufe der Zeit waren es dann vierzehn Länder Europas, deren Menschen mithalfen, dieses Kunstelement zur Offenbarung zu bringen. Es waren Orte wir Brügge in Flandern, Tallinn in Estland, Stourbridge bei Birmingham in England, Schönau bei Wien und Salzburg, Ljubljana in Slowenien, Chartres in Frankreich, Zutphen und Den Haag in Holland, das Albertus Magnus Haus in Freiburg im Breisgau, Überlingen am Bodensee, Berlin, Köln, Dresden, Jelgava und Riga in Lettland, natürlich immer wieder Vihti und Helsinki in Finnland und viele andere Orte, in den letzten Jahren Budapest und dort, in Solymar, einige Male in einem kraftvollen Holzbau des grossen Architekten Imre Makovecz (1935-2011) , den ich selbst noch kennenlernen durfte. Weimar war uns ein Zentrum und auch Malsch, der Modellbau Rudolf Steiners bei Karlsruhe.
In all dieser ständig fortschreiten Entwicklung war immer die bange Frage: was ist dieses suchende Entwickeln eigentlich? Es wurde allmählich deutlich, dass in den menschlichen Relationen mathematische Gesetzmässigkeiten auftauchten. Ohne eine innere Musikalität, die übergehen konnte in ein Summen, Singen und immer wieder in instrumentale Begleitung (Es waren bedeutende holländische Violinisten als Freunde, so Fenneken Francken und Christian Höfer, deren Improvisation die Bewegungen zu tragen vermochte) und vor allem in den unsichtbarer Vor- und Nachbewegungen, welche die eigentlichen Bewegungen umgaben, waren diese Übungen nicht denkbar. Sie waren als solche in der Begrenzung des Raumes zu vollziehen.
In der Natur, in der offenen Landschaft, mit Bäumen, Gewässern, Brücken, Toren, Höhlen, Hügeln, Horizonten entstanden ganz andere Übungen, bei denen die natürlichen Gegebenheiten mitwirkten. Es entstanden Wurf- und Kampfübungen mit selbstgeschnitzten Stöcken, mit Flusskieseln, Bauübungen mit Bruchsteinen und Stäben und vieles andere mehr, bis endlich auch weitgreifenden Übungen mit weissen Schwarzwälder Uhrenschnüren aus Baumwolle entstanden.
Es erwies sich, dass moderne Fantasie und Genialität nicht im einzelnen Menschen und persönlich ist , sondern dass sie sich im Umgang miteinander entfaltet und im Umkreis ablesen lässt. Sobald persönliche Willkür oder pädagogische oder andere Absichten und Routine sich einschlichen, starb die Freude an der Gemeinsamkeit und damit das Kallias-Element. Es starb der Gute Wille, die Grundbedingung aller sozialen Verbindung.
Nicht ein Einzelner hatte die Übungen erfunden, sondern sie waren zwischen uns, wenn alle den Guten Willen hatten. Wohl aber war es der Einzelne, der sie im Intervall zwischen den Menschen abzulesen und zu ergreifen vermochte. Auch wenn Kunst allgemeingültig ist, so sie ist doch nie möglich ohne die Leistung und die Handschrift eines Individuums, welches als Schöpfer eines Kunstwerkes (oder einer Erkenntnisleistung) niemals verleugnet werden darf.
Das Studium der Briefe Schillers, aber auch die wachsende Erfahrungen mit der Menschenkunde der Anthroposophie waren eine ständige innere Quelle dieser Übungselemente. Im letzten Abschnitt des letzten der Ästhetischen Briefe (27. Brief) ist bereits das Urbild dieser neuen sozialen Kunst als ein Bewegungsvorgang beschrieben, wenn man den Text nicht symbolisch, sondern als reale Bewegung versteht.
Dieses Urbild wurde aber noch deutlicher in einer von mir lange übersehenen Begleitschrift der schillerschen Briefe, in den Texten, die Schiller unter dem Namen Kallias oder über die Schönheit herausgegeben hat. Hier wird ganz klar gesagt, was nicht nur das Urphänomen des von mir gesuchten Bewegungselementes ist, sondern das polare Grundprinzip allen sozialen Lebens, welches in der Gestaltung des Miteinanders seine Steigerungen erfährt: im Gegensatz von der Behauptung des eigenen Willens und der Schonung des fremden Willens.
Mathematisch ausgedrückt ist dies die zielstrebige Linie und der sich schützende Kreis, beide verbunden in der Sinuskurve, dem Mäander. Das uralte Symbol dazu ist der Merkurstab mit den beiden Schlangen, die ihn umwinden.
Im Kapitel „Freiheit in der Erscheinung ist eins mit der Schönheit“ heisst es bei Schiller:
„Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umganges) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln lässt. Das erste Gesetz des guten Tons ist´s: Schone fremde Freiheit; das zweite: zeige selbst Freiheit. Die pünktliche Erfüllung beider ist ein unendlich schweres Problem; aber der gute Ton fordert sie unerlässlich, und sie macht allein den vollendeten Weltmann. Ich weiss für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz. Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtungen lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstossen. Alles ist so geordnet, dass der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt; alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, dass jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint und doch nie dem anderen in den Weg tritt. Es ist das treffende Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen.“
Was von Schiller hier anhand eines englischen Tanzes – und auch auf dem Hintergrund der damaligen Französischen Revolution – beschrieben wurde, hat allgemeingültige Bedeutung. Der damalige Tanz ist nur ein Realsymbol dafür. Was in diesem Tanz die Folge einer eingeübten Choreografie war, muss sich, soll eine moderne Kunst daraus entstehen, aus dem Augenblick und den vorhandenen Menschen heraus geistesgegenwärtig entwickeln können.
Die meisten Kallias – Übungen sind spielerische Vorübungen dazu. Sie vermögen soziale Fähigkeiten zu entwickeln, mit deren Hilfe Menschen auch in einer unerwarteten Situation gemeinsam sich in einem musikalischen Bewegungsstrom zu versetzen imstande sind. Dies nicht nur als eine künstlerische Gestaltung, sondern, im Falle einer äusseren Notwendigkeit, auch als Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Bewältigung eines unvorhergesehenen Problems, eines Unglücks, ja einer Katastrophe.
Die estnischen Sing- und Tanzfeste, durch viele Jahrzehnte in Tallinn abgehalten, kühn und mit Erfolg als volkstümliche Fähigkeit angewandt bei der dramatischen Notwendigkeit der „singenden Revolution“1989, hatten der estnischen Bevölkerung die Fähigkeit verliehen, der Übermacht des russischen Reiches und des Sowjetsystems standzuhalten. (Als damals grosse Gruppen der russischen Bevölkerung Tallinns, die Interfront, auf dem Domberg, dem Zentrum der Altstadt, sich sammelten, um das neugebildete Parlament zu stürmen, strömten Esten aus allen Richtungen den Russen entgegen. Und sie sangen! Die Folge war, dass die russischen Menschen, etwas erlebend, was sie tief berührte, sich friedlich in ihre Wohngebiete zurückzogen.)
Der Übergang von einer sozialen zu einer politischen Kunst, die Schiller in den Briefen als Gegenbild zur damaligen blutigen französischen Revolution entwarf, hat hier ein reales Beispiel, deren hoffentlich letzte und glücklicherweise friedliche Gestalt in diesem Land bei verdeckter Anwesenheit kampfbereiter und für ihre Brutalität berüchtigter russischer Omon – Einheiten wir selbst 1990 in Tallinn noch hautnah miterleben konnten.
Es sei hier gedacht des estnischen Tänzers Mait Agu (1951-1998), Professor an der Pädagogischen Hochschule in Tallinn und einer der Regisseure des Tanzfestes, der mit seinem Auto tödlich verunglückt war, genau einige Tage, bevor es durch Kontakte endlich möglich gewesen wäre, mit ihm in Verbindung zu treten. Man sagte, er sei in tiefer Resignation gewesen durch den Anschluss Estlands an den Westen. Gegen die Übermacht des Ostens konnte man sich durch die Kultur des eigenen Tanzes behaupten. Gegen die Übermacht des Westens half dieses Mittel nicht. Ein Ausspruch von ihm: „50 Jahre haben unsere östlichen Nachbarn uns Kultur und Wertvorstellungen vorgeschrieben. Da konnten die Esten schon unterscheiden was gut ist oder nicht. Nun rasen wir blind nach Europa. Sind wir klug und vorsichtig genug dazu? Um auf dem Weg nach Europa (es ist das „Europa“ Brüssels) Esten zu bleiben, müssen wir unsere Unterstützung vor allem aus unserer Kultur schöpfen.“
Stellen wir uns vor, in einem modernen Zentrum, wie einer Abflughalle eines Flughafens, einem Bahnhof oder einem Kongress wäre es die Aufgabe, alle anwesenden Menschen zur Empfindung zu bringen, dass sie als Menschen miteinander zu tun haben, ja alle letztlich aufeinander angewiesen sind und sie einander wenigsten kurz wahrnehmen und begrüssen sollten.
Ein Ruf ertönt, vielleicht ein musikalischer Klang – und alle wissen, was jetzt zu geschehen hat. Sie halten in ihrer zielgerichteten und selbstbezogenen Bewegung inne, blicken sich nach allen Richtungen um – und vollziehen nun eine sowohl gemeinsame wie von jedem aus seiner Überschau individuelle Bewegung, mit dem Ziel, dass alle allen zu begegnen vermögen, mit einer kurzen grüssenden Berührung und einem Blick in die Augen!
Wie hätte eine solche Gesamtbewegung auszusehen, wie wären deren Regeln, damit sie gelingt? Und wie würden sich alle diese Menschen, die sich vielleicht noch nie begegnet sind und nie wieder begegnen werden, während und nach dieser Bewegung fühlen? Was würde ausgelöst, ja was würde verhindert?
Eine solche Fragestellung trifft den Kern der Kallias – Übungen, die ganz anfänglich eine neue soziale Kunst zu begründen vermögen.